Der eigenen Feigheit widerstehen
Glauben und Lebenswirklichkeit gehörten für Bonhoeffer zusammen. So entwickelte er die «Ethik des Widerstandes». Die ist bis heute aktuell.
«Erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens lernt man glauben», schreibt Bonhoeffer einen Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 21. Juli 1944.
Er wolle kein Heiliger werden, sondern diesseitig «in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben» – und sich darin Gott ganz in die Arme werfen. Welch ein Wagnis war er eingegangen, als er sich als Mitarbeiter der deutschen Abwehr unter Canaris verdingte, aber gerade darin den deutschen Widerstand ins Ausland vermitteln wollte. So etwas gilt überall als «Vaterlandsverrat.»
Bonhoeffer, der als Person so sehr für Klarheit, Gradlinigkeit, Offenheit stand, begab sich nicht nur in die Konspiration, sondern der Verfasser der «Nachfolge» rechtfertigte den Tyrannenmord. Nicht nur theoretisch, sondern aktiv beteiligte er sich an seiner Vorbereitung. Er war die treibende Kraft gegen die aufkommende Judenverfolgung (seit 1933!) geworden und hielt das Schweigen der Kirche nach der so genannten Kristallnacht für einen Sündenfall. 1939 dann war er – gegen den Rat guter Freunde – aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt, weil er dieses Regime von innen bekämpfen wollte. Nach dem für die meisten Deutschen begeisternden Sieg über Frankreich im Juni 1940 irritierte er Freunde in einem Lokal in Memel, als er mit den anderen Gästen aufstand, die Hand in den Himmel reckte und auch die anderen Freunde dazu ermunterte. Hinterher sagte er: «Wir werden uns jetzt für ganz andere Dinge gefährden müssen, aber nicht für diesen Salut.»
Wo der Widerstand beginnt
Es war der sehr fromme Bonhoeffer, der sehr politisch wurde und dabei sehr fromm blieb. Seine zentrale Erkenntnis: Das prinzipiell Gültige muss sich bewähren am konkret Notwendigen. Und das heisst immer, im An-Ruf des bedrängten Menschen den Ruf Gottes an mich im Stimmengewirr der Zeit-Anforderungen zu hören. Und so selbstbestimmt wie zuversichtlich das Fällige zu tun – als ein unvertretbarer Einzelner und als Kirche, die nur Kirche ist, wenn sie für andere da ist. Bonhoeffer nennt das «das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben». Seine aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten Briefe lassen sich als Bausteine für eine aus der Lebenswirklichkeit heraus entwickelte Ethik des Widerstandes – aus Glauben! – verstehen. Er macht sich intensiv Gedanken darüber, «wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das >Schicksal< und der ebenso notwendigen Ergebung liegen» (21.2.44).
Es gibt einen sinnlosen Widerstand bis zum Widersinn und Wahnsinn – wie bei Don Quijote oder Michael Kohlhas. Zugleich aber müsse man «das Grosse und Eigene wirklich unternehmen» und dem, was wir «Schicksal», also das Unabwendbare, nennen, ebenso entschlossen entgegentreten, wie man sich zu anderer Zeit unterwerfen muss, also SichErgeben – in jenem Doppelsinn von Sich-drein-Fügen und Aufgeben. Theoretisch lässt sich das leicht unterscheiden, aber im praktischen Verhalten sind «die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung» prinzipiell nicht zu bestimmen. Beides müsse mit Entschlossenheit ergriffen werden. Für Bonhoeffer ist es der Glaube, der «dieses bewegliche, lebendige Handeln» fordert. Das Prinzipielle bewährt sich im Konkreten.
Gefragt: Gerade Menschen
Weder darf man nur aus Prinzip noch nur aus Kalkül handeln. Handeln bleibt für ihn immer ein Wagnis, das man eben nicht in allem vorbedenken kann, sondern das man zuversichtlich und mutig eingehen muss. Was ihn umtreibt, ist ein Versagen der Christenheit vor dem Ungeheuerlichen der Nazizeit: «Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt.»
Was gebraucht wird, sind «nicht Genies, Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen». Er lässt offen, ob die innere Widerstandskraft gegen das Aufgezwungene stark genug, die Aufrichtigkeit gegen sich selbst schonungslos gewesen ist. Schonungslosigkeit ist nicht etwas Masochistisches, sondern ist nur möglich, wenn ein Mensch sich in seinem Handeln getragen weiss und weder in einem resignativen Vorauspessimismus (Es ist doch alles so sinnlos) versinkt noch einem tatenlosen Optimismus (Gott wird schon alles gut richten).
Man dürfe sich als Christ nicht in frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben entziehen. Ein geradezu lutherisches Pathos ergriff ihn: «Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.» Zu widerstehen heisst zuallererst seiner eigenen Feigheit, Trägheit, Achtlosigkeit und Resignation vor jedem Handeln zu widerstehen, sich weder in der Niederlage niederwerfen noch im Erfolg sich betören zu lassen. Die Frage ist nicht, wie ich mich «heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll».
Wahre Tapferkeit
Es gilt, Zivilcourage zu entwickeln, eine Haltung und Handlung, die «aus der freien Verantwortlichkeit» des freien Menschen erwächst – notfalls auch gegen Beruf und Auftrag. Allein in der Tat ist Freiheit! Wer handelt, geht ein Wagnis ein. Es ist ein «freies Glaubenswagnis», das auf dem Vertrauen beruht, dass Gott demjenigen, der durch seine verantwortliche Tat zum Sünder wird, auch Vergebung und Trost zuspricht. «Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen.» – Das bleibt sein Vermächtnis der Freiheit für uns – mit den von ihm festgehaltenen Stationen «Zucht», «Tat», «Leiden», «Tod».
Bonhoeffer ist durch Einsamkeit hindurchgegangen und hat die Selbstbefragung nie unterlassen. «Wer bin ich?», fragt sich der Gefangene – gleichmütig, mutig, freundlich oder unruhig, ringend nach Lebensatem, hungernd nach Farben, müde und leer. «Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.» Aus dieser Gewissheit kommt sein Mut – und macht uns Mut, mündige Menschen in einer mündig gewordenen Welt zu sein, unser Christsein als «Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen» begreifend, der Gleichförmigkeit widerstehend, ein Gefühl für Qualität sich bewahrend, der gefährlichen Selbstzufriedenheit der Dummheit entrinnend – erkennend, wie heute wieder «die Macht der einen die Dummheit der anderen braucht», stets selber der Gnade bedürftig, die allerdings nicht verbilligt zu haben ist.
Mit Gott Schritt halten
Ein erschlafftes Christsein und eine schlaffe Kirche machen sich selbst überflüssig. Wir haben das Wort zu sagen, das in der Wärme persönlicher Beziehungen geboren ist und in der kalten Luft der Öffentlichkeit erfriert. Unsere Worte dürfen nicht wurzellos und heimatlos werden – und wir dürfen unserer Welt das offene, das präzise, das wahrhaftige Wort nicht schuldig bleiben, unter dem Kreuz stehend als «Feinde und Gläubige, Zweifelnde und Furchtsame, Spötter und Überwundene». Uns allen gilt das Gebet Jesu um Vergebung. Dann ist es auch nicht vermessen, «mit Gott Schrift halten» zu wollen. Menschenrechte und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Bebauen und Bewahren der Erde in «Ehrfurcht vor dem Leben», der Horror der Spassgesellschaft mit politischen Entmündigungsstrategien, fundamentalistisch-aggressive Wahrheitsansprüche einerseits und (zynische) Gleichgültigkeit mit dem Verlust jeglichen Zukunftsglaubens andererseits stellen uns in Zeiten der globalen Ideologie des Neoliberalismus samt einem gnadenlosen Kampf um Macht und Ressourcen vor ganz neue ökumenische Herausforderungen. Wir erfahren wieder, «dass Mächte die Welt bestimmen, gegen die, die Vernunft nichts ausrichtet». Aber vielleicht ein Glaube, der widerstehen lernt, indem er widersteht.
Friedrich Schorlemmer
aus “Publik-Forum“,
Zeitung kritischer Christen