„Komm heraus aus deiner Höhle!“ Plötzlich wache ich auf. Klar und deutlich habe ich diese Stimme gehört ... Aber da ist niemand! Hat Gott so deutlich zu mir geredet? Seit einiger Zeit hatte ich mich mit meinem Glauben zurückgezogen ins Private, fokussiert auf meine Arbeit, meine Familie, meinen Alltag und mein Engagement in der Kirche. Und auf einmal werde ich aufgerufen, über meine Grenzen hinauszugehen, mich für andere zu interessieren, mich sehr viel engagierter meinem Nächsten zu öffnen. Was soll ich tun? Ich frage mich: Was täte Jesus an meiner Stelle?

Jesus hat sein ganz besonderes Engagement, seine ganz besondere Berufung unter Beweis gestellt: Als er mit zwölf Jahren mit seinen Eltern zum Passahfest nach Jerusalem kam, ging er nicht mit diesen heim, sondern blieb dort, um mit den Schriftgelehrten zu diskutieren: „Wusstet ihr nicht, dass ich mich um die Angelegenheiten meines Vaters kümmern muss?“, sagte er seinen besorgten Eltern gemäss Lukas 2, 49. Wie können wir das auf unsere Realität übertragen? Wo engagieren wir uns, um gehört zu werden, zu überzeugen und unseren Einfluss geltend zu machen? In Matthäus 5, 13‑14 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Salz der Erde“ und „ihr seid das Licht der Welt“. Sind Salz und Licht nicht hervorragende Mittel, um in der Welt den Unterschied auszumachen?

Salz und Licht

Das Salz symbolisiert die Unversehrtheit. Es ist ein bewährtes Konservierungsmittel, das Zerfall und Verderben verhindert. Wenn es sich auflöst, gibt das Salz der Nahrung auch Geschmack. Ebenso sind wir, wenn wir nicht mehr eigennützig handeln, wie ein Geschenk, das Menschen auf den Geschmack bringt, in unserem Umfeld zu leben. Fantastisch! Auch das Licht ist eine Einladung, aus unserer Verborgenheit herauszutreten: In der Nacht macht das Licht den Unterschied aus. Ein Leuchtturm in der Nacht oder im Sturm, ist das nicht ein viel nützlicherer Halt für die flutumtosten Schiffe als das ruhige Licht inmitten unserer sonntäglichen Versammlung?

Manche Christen meinen, dass Jesu Aussage in der Bibel „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ bedeutet, dass sich Christen nicht in der Politik engagieren müssen. Und in der jüngeren Vergangenheit fehlt es tatsächlich nicht an Beispielen von Kirchen, die durch diktatorische Regime in Dienst genommen wurden; man sollte darum vorsichtig sein. Gibt die Bibel Rezepte für ein politisches System für uns heute? Nichts dergleichen! Auch wenn es in der Bibel wimmelt von Texten, die von Regierung und Autorität sprechen, so beginnt doch immer alles in unserem Herzen und bei unserem Charakter, die durch die Gnade Gottes zur Ähnlichkeit mit Jesus geführt werden sollen. Dann haben wir die Chance, z.B. Autorität auf wohlwollende Art ausüben zu können, um ein Zusammenleben aller in Sicherheit zu ermöglichen.

Eine wohltuende Autorität

Jesaja 32, 1‑2 beschreibt die gute Autorität wie folgt: „Seht: Ein König wird kommen, der gerecht regiert, und Fürsten, die herrschen, wie es recht ist. Jeder von ihnen wird wie ein Zufluchtsort vor dem Sturm sein, wie ein schützendes Dach beim Gewitter, wie Wassergräben an einem dürren Ort, wie der Schatten eines mächtigen Felsens im trockenen Land.“ Im Neuen Testament der Bibel ist es das griechische Wort exousia, das die Regierung, die königliche oder richterliche Autorität über die Menschheit bezeichnet. Paulus sagt im Römerbrief 13, „dass es keine Autorität (exousia) gibt, die nicht von Gott stammt“, und dass „jede von ihm eingesetzt“ ist.

Sieht man Autorität aus dieser Perspektive, so ist sie gesund, gut, verfügbar und dient dem anderen. Wir selbst sind eingeladen, diese Autorität „dort“ auszuüben, „wo wir sind“. Als Mutter habe ich meine „exousia“ über meine Kinder ausgeübt. Ich habe um mich herum eine Weitsicht weitergegeben, die sich aus meinem Verständnis der Bibel speist: die Achtung des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod, der Schutz der Armen und Unterdrückten, der Witwen und der Waisen, die Achtung der Glaubens‑ und Meinungsfreiheit, der gute Umgang mit der Schöpfung, usw. Die Bibel ist voll von Beispielen, die auf die Welt von heute angewendet werden können.

Erwählt oder qualifiziert?

Wählt Gott qualifizierte Leute aus oder befähigt er die Leute, die er erwählt? Beides ist wohl möglich. Wenn wir aber zur ersten Ansicht neigen, werden wir sicher sitzen bleiben, weil wir fürchten, nicht genug qualifiziert zu sein, um ihm zu dienen. Aber Gott möchte ja gerade, dass wir unsere Bequemlichkeit aufgeben! In Jesaja 54, 2 werden wir dazu eingeladen, unser Zelt zu erweitern, die Zelttücher auszuspannen, die Stricke zu verlängern und die Pflöcke zu befestigen! Es ist eine Einladung, uns aufzurichten, innerlich zu wachsen, uns weit zu öffnen für all das, was Gott an Neuem in uns schaffen möchte, das unsere bisherigen Erfahrungen und Gewohnheiten übersteigt.

Erweitere, spanne aus, verlängere, befestige; diese Begriffe klingen nach einer Beschreibung der unausschöpflichen Liebe Gottes, die weder der Höhe, Tiefe, Breite noch der Dauer nach gemessen werden kann. Wir, die wir diese bedingungslose Liebe erfahren haben, sind Botschafter des Reiches und dazu eingeladen, Salz und Licht in dieser Welt zu sein. Werden wir den Mut haben zu sagen, dass für Gott das Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod heilig ist? Werden wir eine Weltanschauung mitteilen können, der gemäss Machtausübung nicht darin besteht, Gott zu spielen, sondern sich in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, eben Salz und Licht zu sein? Dem deutschen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der bekanntlich den Nazis bis aufs Blut widerstanden hat, gelang es, eine solche Stimme zu sein, welche die Gläubigen zum Widerstand rief und sie vor den Bedrohungen warnte, die er im diktatorischen Regime erkannte.

Heute haben alle Ideologien von der extremen Rechten bis zur extremen Linken das Bild Gottes ersetzt. Marxismus, Sozialismus, Liberalismus, der wachsende Laizismus unserer Gesellschaft erheben sich zum einzig gültigen Dogma, das nur noch die durch ein vorgegebenes, erzwungenes Einheitsdenken erlaubt. Im benachbarten Frankreich könnte z.B. bald das Betreiben einer abtreibungskritischen Internetseite strafrechtlich geahndet werden.

Ich persönlich habe meinen Platz in einer christlichen politischen Partei gefunden, meiner Meinung nach der beste Ort, von dem aus man die öffentliche Meinung und die jeweilige Regierung durch die Weitergabe von Werten beeinflussen kann, welche die Gesellschaft befähigt, den Flutwellen standzuhalten, die über sie hinwegrauschen. Beansprucht durch die Medien, die gerne wissen möchten, „was Christen denken“, erfreue ich mich der relativ grossen Meinungsfreiheit, die wir in der Schweiz noch haben. Was motiviert mich? Von dem zu sprechen, was wirklich zählt für Gott; dieser verzweifelten Generation die Hoffnung zurückzugeben; die Wahrheit von oben zu suchen um das Gemeinwohl zu verwalten; ein lebendiger Stein zum Aufbau seines Tempels zu sein.

Gibt es heute in der Politik noch Persönlichkeiten, die demütig genug sind, Gott um Rat zu fragen, wie es Salomon einst tat? Wo sind die Gläubigen, die Gott gerufen hat? Wo verstecken sie sich? Verschanzen sie sich im hintersten Winkel ihrer Höhle? Kommt heraus, wacht auf!

 

Valérie Kasteler-Budde
EVP-Politikerin
in Zukunft CH 4/2014